Portrait Dirk Naumann

Foto: privat

Dirk Naumann leitet zusammen mit Sarah Kassan und Achim Sondermann in einem Dreierteam das Cultra in Brühl. Das Zentrum steckt gerade in einem umfangreichen Prozess der Neukonzeption für Jugendkulturangebote: das [cultra]3d Modell, die Multichannel-Jugendarbeit (drinnen, draussen, digital) …


1. Wie ist der Kontakt zwischen dem Cultra und der Arbeitsstelle „Kulturelle Bildung NRW“ entstanden?

Meine Kollegin Sarah Kassan war vor vielen Jahren auf einer „Tür auf für Kultur“ Veranstaltung im Norden NRWs und hat vor Ort Kontakt zu Brigitte Schorn geknüpft. Daraus sind dann zunächst „Tür auf für Kultur“ Veranstaltungen im [cultra] entstanden und später die [cultra] Akademie.

2. Das Cultra steckt zurzeit in einer kompletten Neukonzeption: Was hat sich bei euch verändert?

Wir haben bereits 2019 begonnen, Jugendkulturangebote in einer postdigitalen Welt zu denken und zu versuchen, diese zu verorten. In diesem Zusammenhang haben wir uns natürlich viele Fragen gestellt und mit Jugendlichen gesprochen. Erkenntnisse und Statuserfassungen im folgenden Abschnitt haben wir damals formuliert und kamen so zu unserem [cultra]3d Modell. Diese sogenannte Multichannel-Jugendarbeit (drinnen, draussen, digital) erproben wir seitdem. Ich will versuchen, dies im Sinne eines elevator-pitch verständlich herunter zu brechen:

Wir möchten mehr, als nur Videos oder Fotos von Inhalten nach erfolgter Durchführung im Netz abbilden. Wir möchten vielmehr Jugendliche auch im Netz mit ansprechenden, nicht kommerziellen, bildungsrelevanten, kulturellen und zu Mündigkeit und Meinungsbildung verhelfenden Angeboten zielgenau erreichen und binden. Wir möchten die Idee festigen, alle Angebote von Beginn an immer in allen drei Kanälen zu denken.

Jugendliche erhalten in der Zeit von (Selbst-)Findung und Entwicklung durch verschiedene pädagogische und interdisziplinäre Angebote Unterstützung, Begleitung bei Fragestellungen, Beteiligung an Prozessen, Befähigung zum eigenen Transfer in die spezifische Lebenswelt und somit Anerkennung. Jugendkulturarbeit schafft im besten Fall ein hohes Maß an erlebter Selbstwirksamkeit. Diese wird aber nur in dem Maße erlebt, als dass sich die Jugendlichen mit Ansprache und Angebot identifizieren können. Nicht zuletzt die Pandemie forderte, dass die Angebote von Jugendeinrichtungen für die Zielgruppe und für die Kooperationspartner digital übersetzt und niederschwellig zugänglich werden, um das Aktivitätsniveau der Zielgruppe im Hinblick auf kulturelle Bildung, Jugendkultur und -freizeitangebote fortsetzen und ausbauen zu können.

Jugendliche sind ab dem 13. Lebensjahr über zwei Stunden täglich online und können alles on demand nutzen. Dabei bewegt sich die Zielgruppe in “digitalen Blasen”, die sie selten als solche wahrnehmen. Algorithmen steuern passgenau und individuell, nach persönlichen Interessen, was sie sehen. Die Herausforderung ist also, Jugendliche im Netz mit ansprechenden, nicht kommerziellen, bildungsrelevanten, kulturellen und zu Mündigkeit und Meinungsbildung verhelfenden Angeboten zielgenau zu erreichen und zu binden.

Teil der Herausforderung ist dabei, die virtuelle Lebenswelt der Jugendlichen und ihr digitales Verhalten zu verstehen, um im zweiten Schritt dort mit ihnen zu arbeiten, sie zu inspirieren und kulturelle Bildung zu ermöglichen.

Dies beinhaltet auch eine Kompetenzerweiterung auf Leitungsebene bezüglich der Digitalität, modernen Technologien und wirkenden Mechanismen, wie Algorithmen oder Datenverarbeitung. Es ergibt sich unerlässlich, Bildungsverantwortung für den digitalen Raum zu übernehmen und auch dort einen Zugang zu kulturellen Bildungsangeboten sicherzustellen und zu verankern und auch die Chancen der hier wirkenden Systeme verantwortlich und transparent zu nutzen. Aufklärung für Jugendliche über Zusammenhänge,

Gefahren und Intentionen der digitalen Systeme kann hier dienlich sein. Auch die Coronapandemie war für die Jugendkulturarbeit Treiber und Zwang, die digitale Entwicklung zu beschleunigen. Übliche kulturelle Jugendveranstaltungen, Workshops und Projekte fielen aus, ebenso wie präventive oder unterstützende Mobile Jugendarbeit auf der Straße. Kooperationsprojekte mit Schulen wurden abgesagt. Gerade diese sind von besonderer Wichtigkeit, da die Kooperationen Jugendlichen unabhängig ihrer sozialen Verhältnisse, niederschwellig und in gewohntem Kontext ermöglichen, an kulturellen Bildungsangeboten zu partizipieren. Für die Arbeit eines Jugendkulturhauses bedeutete das, dass das Offline-Angebot zeitnah um ein neues Online-Angebot erweitert werden musste. Dass kulturelle Bildung digital gelingen kann, steht außer Frage – täglich erlernen viele Menschen erfolgreich Instrumente, Choreografien oder die Funktionsweise von Software beispielsweise mithilfe von YouTube Tutorials. Doch die explizite Jugendkulturarbeit mit ihren indirekten und direkten Vermittlungsweisen war bis dahin noch weitestgehend analog.

Es bleibt immer noch eine Herausforderung für kulturelle Jugendarbeit, digitalen Inhalt zu produzieren, der einerseits in der Masse an zur Verfügung stehenden Angeboten überzeugen kann und andererseits unbefriedigte Bedürfnisse und Bedarfe der Zielgruppe anspricht; kurz: echtes und nachhaltiges Interesse weckt. Die Jugendarbeit muss das zur Verfügung stehende Angebot prüfen und entsprechend sinnvoll durch Lern- und Entwicklungsangebote ergänzen. [cultra] stellt dies ins didaktische Zentrum des 3D Multichannel-Ansatz. Hier steht die gleichwertige Verankerung der Dimensionen, Drinnen Draußen und Digital (3D), im Zentrum, verbunden mit einem neuen Blick, der darauf gerichtet ist, nachhaltige Angebote immer in allen drei Kanälen zu denken und mehrdimensional zu verorten.

Darüber hinaus haben wir unser Haus neu gedacht. Im Haus [cultra] sind ab sofort die Studios für kulturelle Bildung für alle pädagogischen Workshops und Ergebnisse verantwortlich. Es gibt ein frisch renoviertes Café, welches unter dem eigenständigen Namen filterei für alle pädagogischen Veranstaltungen und Mitmachangebote verantwortlich sein wird. 

Der große Saal, die Kellerstudios und drei Nebenräume vereinen sich zu einem digital hub, der direkt an der Schnittstelle analog digitaler Impulse und Fragestellungen Jugendlicher schier unendliche Antwort- und Erprobungsmöglichkeiten liefert. Dieser wird sich in unserem letzten Schritt unserer Neuausrichtung in sieben „worlds“ ausbilden, die in Ihrer Anordnung und technischen Infrastruktur dazu einladen, sich in der Arbeit an unterschiedlichen Kunstformen und mediengestalterischen Prozessen individuell zu verwirklichen – dokumentarisch, künstlerisch, performativ und kontemplativ. Es könnte durchaus behauptet werden, dass wir final einen der ersten kulturell bildenden Jugend-Coworkingspaces für alle Jugendlichen haben werden.

3. Eine konzeptionelle Idee ist, eure Angebotsplanung stets mit dem Digitalen zu verbinden: Wie sieht das genau aus?

Wir sind in diesem Zusammenhang auch Forschende! Was ich damit sagen möchte ist, wir möchten gerne herausfinden, wie sich kulturelle Bildungsangebote im Netz verorten und auch eventuell mit bestehenden Angeboten verknüpfen lassen. Wir sind hier auf Pionierfahrt und zu einem großen Teil auf selbst gemachte Erfahrungen angewiesen. Es wird hierzu bald eine Broschüre geben, in der wir unsere Idee erklären und aus ein paar Projekten berichten. Ich versuche unsere Angebotsplanung hier gerne deutlich zu machen, indem ich zwei Beispiele kurz anführe:

Das Beispiel der Nutzung jugendrelevanter Medien verdeutlicht die Dimensionen an ihren verschiedenen Touch Points, sowie die Unterscheidung von Digitalität und Digitalisierung. So zeigt das Projekt mit der BZgA (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) zum Thema „Organspende“ eine analoge und digitale Produktion von Inhalten zur achtsamen und wertschätzenden Auseinandersetzung in diesem Gebiet. Die BZgA hat [cultra] im Sommer 2021 dazu eingeladen, die aktuellen Jugendmaterialien zum Thema Organspende mitzugestalten. In der Umsetzung ist eine Podcast-Reihe in Zusammenarbeit mit Jugendlichen entstanden, die Fragen stellt, diskutiert und auf Augenhöhe ein komplexes und sensibles Thema bespricht. Die hausinterne und durch Jugendliche besetzte Social Media Agentur dgtl_mnds geht mit dem Projekt „Sag mal: …über Organspende reden“ den Weg des 3D-Ansatzes und nutzt alle drei Dimensionen nach ihren Potenzialen. Im Projekt „Schule gegen Rassismus – Schule mit Courage“ mit der örtlichen Clemens-August-Hauptschule findet der Raumbegriff Unterstreichung und wie die Dimensionen sich in der mehrdimensionalen Präsentationsform ergänzen können. [cultra] hat im Rahmen der Patenschaft an der Brühler Hauptschule gemeinsam mit Jugendlichen zum Thema Antirassismus gearbeitet.

Hierbei sind Video- und Foto-Portraits mit Statements zu ihrem Blick auf Rassismus in der Schule digital für die schuleigenen Social Media Kanäle Instagram und YouTube produziert und analog in einer kooperierenden Brühler Buchhandlung aufbereitet und ausgestellt worden.

In den verschiedenen Phasen werden dann die verschiedenen Dimensionen in den Projektverlauf eingebunden. Während „Schule mit Courage“ viel an analogen Orten stattgefunden hat und die Präsentation in digitalen Kanälen und der Brühler Buchhandlung stattfand, ist das „BzgA-Projekt“ im Austausch mit der digitalen Community auf Instagram gestartet und wurde dann vor Ort in unserem Podcast-Studio mit den teilnehmenden Jugendlichen, professioneller Moderation und Fachmensch aufgezeichnet, um schlussendlich digital als Unterrichtsmaterial on demand zur Verfügung zu stehen.

Wie man lesen kann, ist hier eine differenzierte Betrachtung und Nutzung der drei D’s (drinnen, draussen, digital) je nach Thema, Zielgruppe und Rahmenbedingung nötig. Es ist aber zum Beispiel auch schon ein toller Schritt, wenn man im Rahmen eines jugendkulturellen Angebotes einen Livestream zu einer Vorortveranstaltung anbietet und eine Teilhabe (über z.B. Mentimeter) bei Fragen, Abstimmungen o.ä. ermöglicht. Erweiterte  Möglichkeiten bieten hierzu ja auch Barcamps an, die ebenso in eine postdigitale Welt gehören.

4. Was hat euch dazu bewogen ein Leitungsteam aus pädagogischen und künstlerischen Fachkräften zu bilden?

Nun, zum einen ist hier die gewachsene Struktur der MitarbeiterInnen zu nennen und zum anderen natürlich die Erfahrungen aus der Vergangenheit verbunden mit einem in die Zukunft gerichteten Blick. Letzterer trug leidenschaftlich den Gedanken der Enthierarchisierung und das Aufbrechen klassischer und leider noch zu selten hinterfragter Strukturen in sich. Wir wollten es einfach versuchen. gemeinsam zu leiten und dadurch mehr Breite in die Entscheidungen zu transportieren. Wir konnten in den vergangenen Jahren der Pandemie viel lernen und ausprobieren. Wir konnten zum Beispiel feststellen, dass die Vorteile dieser Idee sich insbesondere in der schlussendlich beseelten Qualität der Angebote zeigen kann und die Nachteile häufig in der fehlenden Geschwindigkeit auf dem Weg dahin liegen. Unsere Angebote tragen also schon in der Entstehung pädagogische und künstlerische Haltungen in sich. Der Anspruch eines pädagogischen Zieles geht also nicht an die künstlerisch tätige Fachkraft mit dem Auftrag, diesen Anspruch bitte künstlerisch umzusetzen. Vielmehr haben wir schon für diese künstlerische Umsetzung Leitplanken formuliert. Ich bin überzeugt davon, dass dies nicht zu fehlender künstlerischer Freiheit führt, sondern vielmehr zu mehr Sicherheit und mehr Erkenntnis, als künstlerisch tätige DienstleisterInnen gesehen und verstanden zu werden. Ich persönlich glaube fest daran, dass sich profunde und erprobte Qualität schlussendlich durchsetzt, auch wenn man auf dem Weg dahin häufig fragende Menschen um Geduld bitten muss. Weiterhin denke ich persönlich, dass unser Modell auch nicht grundsätzlich überall funktionieren kann. Ich glaube, es braucht einen starken Träger wie unseren (ASB Rhein-Erft/Düren e. V.), der viel Vertrauen und auch selbst schon sehr schlanke Strukturen hat. In einer städtischen Trägerschaft sehe ich persönlich Hindernisse für eine solche Idee. Hier könnte meiner Meinung nach der fehlende Freiraum des Ausprobierens und die zumeist noch stark klassisch hierarchische Struktur kontraproduktiv sein. In einem Satz gesagt: Diese Art zu leiten benötigt Zeit aber lohnt sich meiner bisherigen Erfahrung nach! Nichts ist es nicht wert, einen zweiten und dritten Blick darauf zu werfen!

5. Was begeistert euch an eurer Arbeit am meisten und vor welchen Herausforderungen steht ihr aktuell (noch)?

Zunächst muss ich sagen, dass ich herzlich gerne mit Sarah Kassan und Achim Sondermann in einem Leitungsteam agiere. Mich persönlich begeistert besonders deren herausragende Kompetenz im pädagogischen und künstlerischen Bereich. Ich glaube, ich darf auch für die Kolleginnen behaupten, dass uns die Freiheit, in der wir arbeiten und forschen dürfen und das Vertrauen, das uns entgegen gebracht wird sehr beflügelt. Mich persönlich begeistert, wenn Ideen Früchte zu tragen beginnen und aus zarten Keimen Vielheit entstehen darf. 

Herausforderungen gibt es allerdings sehr viele. Es ist sehr schwierig, gleichzeitig ein Haus wie unseres und somit auch Angebote der kulturellen Bildung und Jugendkulturangebote neu zu denken, aber ebenso zeitgleich jungen Menschen Angebote zu machen und diverse Zielgruppen zu erreichen. Wir müssen uns hier um zusätzliche Projektgelder bemühen, immer wieder mal um Geduld bitten und eine neue Teamidee und auch ein neues Team aufbauen und pflegen.

Gleichsam ist man in einem Leitungsteam nicht immer einer Meinung, sodass es gilt, eine Streitkultur zu entwickeln, die schlussendlich immer einen Deal und somit einen Gewinn für die Zielgruppe erreichen will, indem dieser sich aus der größeren Fülle von Wissen, Erfahrungen und Blickwinkeln speist, anstatt diese gegenseitig auszuschließen.

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